Ulrich Klug: Die Anarchie als Verfassung des 4. Reiches [1]

Es ist aus der Mode gekommen [1966], sich in der Rechts- und Staatsphilosophie über Staatsformen Gedanken zu machen. Das führt zu manchen Unklarheiten und eröffnet Möglichkeiten für bedenklichen Begriffszauber im politischen Bereich.

Der aus der Lehre von den Staatsformen stammende Begriff der Anarchie spielt in diesem Zusammenhang seit langem eine Sonderrolle. Er ist bis zum Nachtmahr ängstlicher Staatsdiener mythologisiert, obwohl er schon auf den ersten Blick als wertfreier Strukturbegriff erkennbar sein müßte – jenseits von Gut und Böse. Aber diese neutrale und wissenschaftliche Sicht scheint immer wieder emotional verstellt zu sein, obwohl sie durch die Intentionen einer reinen Rechtslehre, wie sie Hans Kelsen schon seit Jahrzehnten eindrucksvoll vortrug, nahegelegt sein sollte [2].

Erklären läßt sich die Verteufelung dieses Begriffes zum Teil wohl durch eine nicht genügend scharfe Trennung zwischen dem staatstheoretischen Begriff der Anarchie und dem politisch-ideologischen Faktum des Anarchismus.

Im deutschen Strafrecht wird die Erinnerung an die Anarchisten durch die erst 1964 modernisierten besonderen Straftatbestände für Sprengstoffattentate wachgehalten. Die Tatbestände waren in ihrer ursprünglichen Fassung gesetzgeberisch durch ihr Abgleiten vom Schuldprinzip ebenso mißglückt wie jenes Attentat anläßlich der Enthüllung des überprächtigen Niederwalddenkmals, bei dem am 28. 9. 1883 durch eine Dynamitbombe Kaiser Wilhelm II. und die deutschen Länderfürsten mit einem Schlage liquidiert werden sollten und das der Anlaß für die übereilte Einführung jener Straftatbestände gewesen ist.

Zu Füßen jenes Germaniadenkmals im Niederwald bei Rüdesheim am Rhein geschah nichts, weil die Zündschnur verregnet war. Aber andere Attentate, die nicht so glimpflich verliefen, beunruhigten Europa um die Jahrhundertwende unter dem Zeichen des Anarchismus. Indessen, genau dies ist es, was für das rechtstheoretische Interesse ohne Belang ist. Es geht nicht um das historische Phänomen des Anarchismus, sondern um das rechtsphilosophische Problem der Anarchie, also um die Analyse eines Grenzfalles der Theorie möglicher Staatsformen. Es müßte gelingen, sich von der Bombenlegerphobie zu lösen, zumal dann, wenn ein neues Durchdenken des Anarchieproblems – wie sich zeigen wird – zu fruchtbaren Leitbildkonstruktionen und insbesondere zu der Einsicht führen kann, daß Gewaltaktionen extrem nicht-anarchisch sind.

Eine ausgearbeitete Strukturtheorie der Anarchie gibt es bisher anscheinend nicht. Man ist sich aber wohl darin einig, daß der Anarchiebegriff jedenfalls ein auf der Herrschaftsrelation aufbauender Begriff ist und daß er sich infolgedessen dafür eignet, Formen der gesellschaftlichen Zuordnung von Personen zu charakterisieren. Entsprechende Anwendungen auf Gruppenbildungen bei Tieren mögen denkbar sein, können aber bei der Analyse außer acht gelassen werden.

Einigkeit herrscht traditionell ferner über das Verhältnis zwischen Anarchie und Ordnung einerseits und zwischen Anarchie und Staat andererseits. Es ist üblich, zu sagen, Anarchie sei erstens ein Zustand der Unordnung, und zweitens seien Anarchie und Staat unversöhnliche Gegensätze. Meistens wird die zweite These mit der Begründung aus der ersten abgeleitet, daß der Staat ein Ordnungszustand sei und infolgedessen ein anarchischer Staat eine Contradictio in adjecto sein müsse. Beide Thesen sind falsch.

Anarchie ist ein Ordnungsbegriff. Das läßt sich, falls man dem Ausdruck „Anarchie“ keine vom klaren Wortsinn abweichende Bedeutung gibt, verhältnismäßig leicht zeigen. Hierbei geht man am zweckmäßigsten von anderen weniger problematischen Begriffen aus der Lehre von den Staatsformen aus. Daß beispielsweise der Begriff der Monarchie ein auf einen gesellschaftlichen Zustand bezogener Ordnungsbegriff ist, wird von niemandem bestritten. Die Definition der Monarchie als eines elementaren gesellschaftlichen Strukturbegriffs besagt, daß in einer monarchisch geordneten Gesellschaft nur einer herrscht – wobei unter herrschen eine normative Beziehung zwischen konkreten Personen, nicht zwischen Dingen oder Ideen, zu verstehen ist. Alle anderen Mitglieder der Gesellschaft sind in diesem Falle Untertanen, sofern man unter einem Untertanen einen Beherrschten versteht.

Herrschen mehr als einer, aber weniger als die Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder, dann kann man von einer Oligarchie sprechen. Hier ist die Anzahl der Herrschenden stets kleiner als die der Untertanen. Ist die Anzahl der Herrschenden größer als die der Untertanen oder ist die Anzahl beider Gruppen gleich groß, dann hat man es mit einer Polyarchie zu tun. Typische Fälle oligarchischer und polyarchischer Gesellschaftssysteme sind so geordnet, daß in der Oligarchie eine kleine Gruppe und in der Polyarchie eine erhebliche Majorität herrschen. Die sich zur Gleichzahligkeit hin annähernden Grenzfälle beider Formen sind nicht typisch und wurden nur aus definitionstheoretischen Gründen um der Geschlossenheit des Systems der Strukturen willen berücksichtigt.

Herrschen alle, kann man von Panarchie sprechen und hat damit den Schlußstein zum klassischen Struktursystem der Dreigliederung von Einherrschaft, Mehrherrschaft und Allherrschaft, lediglich modifiziert um eine zusätzliche Aufgliederung der Mittelgruppe.

Überblickt man die vier Strukturen Monarchie, Oligarchie, Polyarchie und Panarchie, dann drängt sich die logische Ergänzung des Systems durch die Beifügung des Begriffs der Anarchie geradezu auf. Die Anarchie bezeichnet dann diejenige Gesellschaftsstruktur, bei der niemand herrscht, und steht damit als der entgegengesetzte Extremfall der Panarchie gegenüber. Beide Strukturen stimmen darin über ein, daß sie einen gesellschaftlichen Zustand charakterisieren, in dem es keine Untertanen gibt. In der Panarchie ist dies so, weil alle Gesellschaftsglieder Herrscher sind, und in der Anarchie folgt das daraus, daß es unter den Gesellschaftsgliedern keinen Herrscher gibt.

In diesem geschlossenen fünfgliedrigen Struktursystem sind die benutzten Begriffe so wertfrei wie mathematische Begriffe. Die Analyse ergibt nicht das geringste dafür, daß irgendeine Struktur besser oder schlechter ist als eine andere. Sollte eine Wertskala der Strukturen entwickelt werden, müßten zusätzliche, etwa teleologische Prämissen an das System herangetragen werden. Das ist oft verkannt und ebensooft vorsätzlich verstellt worden. Deutlich zeigt sich das daran, daß Allein-Diktatur und Tyrannei nur Unterfälle der Monarchie; Aristokratie und Juntaherrschaft nur solche der Oligarchie oder der Polyarchie; und Demokratie sowie sog. „Pöbel“-Herrschaft nur mögliche Unterfälle von Polyarchie und Panarchie sind.

Anarchie ist also eine besondere Art gesellschaftlicher Ordnung, nicht anders als Monarchie, Oligarchie, Polyarchie und Panarchie. Anarchie und Ordnung widersprechen einander nicht. Schon Kelsen wies hierauf hin [3]. In einer anarchisch geordneten Gruppe müssen die einzelnen Glieder in der Weise einander zugeordnet sein, daß es weder Herrscher noch Beherrschte gibt. Anarchie ist Herrschaftslosigkeit. Sie setzt mithin absolute Gleichberechtigung aller voraus. Nur unter dieser Voraussetzung gibt es keine Untertanen und keine „Obertanen“, wie Karl Kraus die Herrschenden nannte. Anarchie ist eine Ordnung nach dem „round-table“-Modell, wo der Untenan durch den Partner ersetzt ist.

Eine geordnete Anarchie ist also durchaus keine Contradictio in adjecto. Sie ist aber auch kein Pleonasmus, weil der Zustand der Herrschaftslosigkeit auch einmal das Ergebnis einer chaotischen und zufälligen Situation sein kann. Immerhin ist wirkliche Anarchie ein Gesellschaftszustand, der eine so komplizierte Balance der Rechte voraussetzt, daß eine Realisierung außerhalb geordneter Verhältnisse kaum denkbar ist. Außerdem vergegenwärtige man sich, daß revolutionäre Zustände mit Gewaltanwendungen und dem „Recht des Stärkeren“ alles andere als Anarchien sind. Der Bombenwerfer beherrscht seine Opfer in extremster Weise. Anarchisten pflegten von Anarchien nur zu reden.

Ob die Ordnung einer Gesellschaft unter dem Prinzip der Anarchie schwerer zu verwirklichen ist als beispielsweise nach dem Modell der Monarchie, ist kein logisches Problem, sondern nur eine praktische Frage. Anarchie zu realisieren ist sicherlich schwer, weil in Gruppen mit großer Mitgliederzahl die Herstellung des erforderlichen Gleichgewichtszustandes von der Erfüllung sehr komplexer Voraussetzungen abhängig ist. [Deswegen muß das 4. Reich so dezentralistisch wie möglich und zentralistisch wie nötig sein.]

Es gehört zu den nachdenkenswerten Tatsachen, daß die Einsicht in den Ordnungscharakter des Anarchiebegriffs leichter ist, wenn man auf den Terminus „Anarchie“ verzichtet und statt dessen immer von Herrschaftslosigkeit spricht. Indessen ist das nur ein psychologisches und soziologisches Problem. Die falsche Identifizierung der Anarchie mit dem Chaos und die ständige Wiederholung der These, ohne Herrschaft gäbe es keine Ordnung, sind uralte Methoden, mit denen die Herrschenden den Beherrschten die unumstößliche Notwendigkeit ihrer Herrschaft suggerieren. Natürlich wäre der Erfolg dieses vernebelnden Vorgehens geringer, würde man – was nach jener These folgerichtig wäre – deutlich zum Ausdruck bringen, man vertrete die Ansicht, ein Zustand der Gleichberechtigung sei kein geordneter Zustand. Das Widersinnige jener Lieblingsthese aller Herrschenden käme ans Tageslicht. Aber mit dem Slogan, ohneUntertanen gehe es nicht, kann man eine bestehende Herrschaft propagandistisch schlecht stützen.

Daß es in der gesellschaftlichen Wirklichkeit anarchisch geordnete Gruppen gibt und diese Struktur mithin nicht lediglich theoretische Bedeutung hat, ist leicht zu zeigen. So ist beispielsweise im deutschen Familienrecht die Ehe – ein Fall einer zweigliedrigen Gruppe – anarchisch geordnet. Die Ehepartner sind gleichberechtigt. Das Eherecht kennt keinen Herrscher und keinen Untertan in der Ehe. Diese Anarchie ist sogar im Art. 3 Abs. II GG verfassungsrechtlich geschützt.

Größere Gruppen können nach dem Vereinsrecht anarchisch geordnet sein, wenn z. B. Beschlüsse der Mitglieder nur einstimmig gefaßt werden können, jedes Mitglied also ein Vetorecht hat.

Das gleiche gilt für wirtschaftsrechtliche Gesellschaftsformen. Man denke an eine Handelsgesellschaft zwischen zwei Partnern mit 50 % Anteilen, eine Struktur, die nicht selten bewußt gewählt wird oder auch die Folge eines erbrechtlichen Vorganges ist.

Ein Beispielsfall größten Stils ist die Völkerrechtsordnung zwischen souveränen Staaten. Sie ist Ordnung ohne Herrschaft, also ein Zustand echt anarchischer Struktur. [Worauf Oberlercher einst hinwies]

Aus dem Gesagten ist die strukturtheoretische Folgerung zu ziehen, daß es möglich ist, auch anarchische Staatsordnungen zu konstruieren. Ein Staat ohne Untertanen ist keine Paradoxie. Eine Staatsordnung auf der Grundlage folgerichtiger Gleichberechtigung ist eine Ordnung, in der die Staatsangehörigen zueinander im Partnerschaftsverhältnis, nicht im Verhältnis des Herrschens und Beherrschtwerdens stehen, mithin eine anarchische Ordnung.

Da es in der Panarchie ex definitione ebenfalls keine Untertanen gibt, weil alle herrschen, könnte eine Staatsordnung auf der Basis der Gleichberechtigung ihrer Struktur nach auch als Panarchie charakterisiert werden. Der Begriff der Anarchie gibt die Struktur jedoch besser wieder. Daß alle herrschen, ist zwar eine logisch einwandfrei konstruierte Grenzmöglichkeit im System möglicher Strukturen. Ihre praktische Verwirklichung stößt aber auf die Schwierigkeit, daß es keinen realen Sinn hat, zu sagen, alle seien Herrscher, wenn es keine Beherrschten gibt. Anders liegt es beim Anarchiebegriff. Hier kann man unbedenklich sagen, niemand sei Beherrschter, weil eine solche Aussage sinnvoll ist selbst dann, wenn es das Korrelat – den Herrscher – nicht gibt. Im Gegenteil, gerade dies ist ihr Sinn.

Geht man davon aus, daß von einem modernen freiheitlichen Rechtsstaat, sieht man von vielen anderen notwendigen Voraussetzungen ab, nur dann gesprochen werden kann, wenn der Grundsatz der Gleichberechtigung aller gilt, ist die Staatsform der geordneten Anarchie die idealtypische Rechtsstaatsstruktur [4]. Sie wird realiter sicherlich niemals ganz erreicht. Stets aber muß sie als Leitbild beachtet werden, wenn überhaupt der freiheitliche Rechtsstaat angestrebt werden soll. Genau dieses anarchische Idealbild ist – bewußt oder unbewußt – maßgebend, wenn der Typ des Obrigkeitsstaats abgelehnt und bekämpft wird.

Gegen die These, die Anarchie könne eine Staatsform sein, ließe sich vielleicht vorbringen, der moderne Massenstaat sei ohne Berechtigung zu Zwangseingriffen nicht denkbar. [Weswegen Dezentralisierung] Insbesondere gelte dies für das Strafrecht und die Strafjustiz. Dazu ist zu sagen, daß die Verwirklichung einer idealen Struktur nahezu niemals in reiner Form möglich ist. Das gilt aber für die anderen Strukturmodelle ebenfalls. Der Leitbildcharakter der anarchischen Ordnung bleibt für den Rechtsstaat verbindlich, selbst wenn in pathologischen Grenzsituationen auf die Realisierung verzichtet werden muß.

Ebensowenig würde der Einwand durchgreifen, daß im modernen Massenstaat regiert werden müsse, dies aber mit Herrschaftslosigkeit unvereinbar sei. Regieren im Sinne des folgerichtig anarchisch geordneten Rechtsstaats ist Steuern und Repräsentieren nach dem Primus-inter-pares-Prinzip, nicht Herrschen. Die Perversion des Regierens zum Herrschen ist in concreto einigermaßen leicht festzustellen. Die abstrakte Grenzziehung ist schwierig und wenig sinnvoll. Das Bild des Kapitäns eines Schiffes drängt sich auf. Der Kapitän steuert, aber herrscht nicht.

Die Analyse der Strukturprobleme beim Anarchiebegriff hat indessen nicht nur theoretische Bedeutung. Ein Blick in die Rechtspraxis beweist, daß die anarchische Ordnungsstruktur als Leitbild und Klärungsfaktor eine wichtige Rolle spielt. Es gibt viel mehr realisierte Anarchie in den geltenden nationalen und internationalen Rechtsordnungen, als man zunächst vermuten möchte.

Im weltweiten internationalen Bereich über alle west-östlichen und sonstigen Grenzen hinweg spielt das Ordnungsprinzip der Anarchie eine ganz entscheidende Rolle. Supranationale Organisationen, voran die UN, können nur anarchisch konstruiert werden. Allein auf diesem Wege kann erreicht werden, daß souveräne Partner Teile ihrer Rechte auf jene Institutionen übertragen. Neue Herrschaftsformen will in diesem Bereich niemand zulassen. Aber das herrschaftslose „round-table“-Modell kann bei allen Beteiligten als Basisstruktur für gleichmäßige Einschränkungen von Rechtspositionen zu Gunsten einer supranationalen Einrichtung hingenommen werden. Einer Weltrechtsordnung kann man sich nur nähern, wenn das Leitbild der Anarchie wirksam ist. Man ist geneigt, diese Einsicht in die Formel zu kleiden: Zukunftschancen für die UN und andere supranationale Institutionen bestehen nur dann, wenn sich die Beteiligten zur Ordnungsstruktur der Anarchie bekennen.

Im innerstaatlichen Bereich spielt der Anarchie-Gedanke ebenfalls eine wichtige Rolle. Als Beispiele wurden bereits das Eherecht, das Vereinsrecht und das Recht der Handelsgesellschaft genannt. Im einzelnen kann das in diesem Zusammenhang nicht entwickelt werden. Einige weitere Beispiele seien aber noch andeutungsweise erwähnt.

Der klassische Fall einer anarchischen Ordnung eines gesellschaftlichen Zusammenschlusses ist die Genossenschaft. Sie ist stets als mit dem Willen zur reinen herrschaftslosen Partnerschaft gegründet anzusehen. Die Leitung einer Genossenschaft steuert, aber sie herrscht nicht.

Im Wirtschaftsrecht müssen ferner die Bemühungen um Erhaltung des freien Spiels der Kräfte in der sozialen Marktwirtschaft durch die Kontrolle und Einschränkung von Wettbewerbsbeschränkungen, insbesondere von Kartellen, als Sicherung der Herrschaftslosigkeit gedeutet werden.

Als besonders einleuchtendes Beispiel für eine folgerichtig durchgeordnete Anarchie mag das Straßenverkehrsrecht gelten. Hier „herrscht“ geordnete Anarchie bis in die letzten Einzelheiten der Regelungen hinein. Abgesehen von begrenzten Notsituationen und ähnlichen Konstellationen gibt es keine Vorrechte, es sei denn auf der Basis der Gleichberechtigung normierte, allen zustehende Vorfahrtsrechte u. ä. Das große, teuere Auto „mit eingebauter Vorfahrt“ ist eine antianarchische Chimäre.

Durchmustert man die gegenwärtig praktizierten Regierungsformen, so zeigt sich:

Diktatoren und solche, die nach dieser Machtposition verhüllt oder unverhüllt streben, pflegen auch heute noch mit dem unlogischen Scheinargument „Ohne Herrschaft keine Ordnung“ als Narkotikum für ihre Untertanen zu operieren.

Bei konstitutionellen Monarchien kann von echter Monarchie keine Rede sein. In diesen Systemen ist der Fürst – oder die Fürstin – oft zum dekorativen Symbol der Anarchie gesteigert.

Regiert irgendwo in höchster Instanz eine Gruppe, eine Junta, ein Regierungsausschuß oder etwas Ähnliches, dann wird gegenüber den Regierten die Struktur der Oligarchie verwirklicht sein. Dagegen könnte die Anarchie das Ordnungsprinzip für die innere Struktur jener herrschenden Gruppe sein.

Es wird oft über die Staatsverdrossenheit der jungen Generation geklagt. Nicht jene Verdrossenheit, sondern die Klagen darüber sollten hellhörig machen. Staatsverdrossenheit wird meist die anerkennenswerte Beantwortung von Herrschaftsanmaßungen, also von anti-anarchischen Tendenzen sein. Hier werden dann mit Recht Gegengewichte zur Abwehr von Gefahren für den sensiblen Zustand der Gleichberechtigung gesetzt. So gesehen ist es sinnvoll, unverdrossen verdrossen zu sein. Dem braucht nur der nicht zuzustimmen, der Gefallen daran findet, als Untertan zu leben.

Will man dieser Staatsverdrossenheit eine positive Wendung geben, um unfruchtbares Verharren in der Ablehnung zu vermeiden, dann mag man zum Engagement für das Grundgesetz der Bundesrepublik [bzw. die Verfassung des 4 Reiches] aufrufen, denn das Grundgesetz verbietet den Obrigkeitsstaat. Die im Grundgesetz geregelte freiheitliche demokratische Grundordnung impliziert vielmehr eine Gesellschaftsstruktur, die weder Unter- noch Obertanen, sondern nur gleichberechtigte Partner kennt. Das Grundgesetz [die Verfassung des 4 Reiches] ist damit der eindrucksvolle historische Versuch, sich dem Ideal der Herrschaftslosigkeit, der geordneten Anarchie zu nähern, jener Anarchie, die Kant als „Gesetz und Freiheit ohne Gewalt“ definierte [5].

 

[1] Dieser Aufsatz erschien zu erst unter dem Titel „Die geordnete Anarchie als philosophisches Leitbild des freiheitlichen Rechtsstaats“ in der Zeitschrift Neues Forum XIII/154, Wien 1966; dann in: Ulrich Klug, „Rechts- und staatsphilosophische Analysen und Positionen“ (Bd. 1 von „Skeptische Rechtsphilosophie und humanes Strafrecht“), Berlin, Heidelberg, New York 1981

[2] Reine Rechtslehre, 2. Aufl., Wien 1960.

[3] Allgemeine Staatslehre, Berlin 1925, S. 29.

[4] Vgl. U. Klug, Der Rechtsstaat und die Staatsphilosophie der geordneten Anarchie, in: Staat-Recht-Kultur, Festgabe für Ernst von Hippel, Bonn 1965, S. 148 ff.

[5] Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, § 109 II.